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Zirkus in den Höfen: 20 Jahre Chamäleon

Wolf_Circa_c_Brennan-Spark
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Juli 2024

Vorhang auf im ersten Hof – Das Chamäleon-Theater bringt mit eine besondere Kunstform auf die Bühne: zeitgenössischen Zirkus. Und das seit 20 Jahren (fast) jeden Tag. Wir stellen das engagierte Führungs-Duo vor: Anke Politz und Hendrik Frobel leiten das Theater seit dem Jahr 2011 gemeinsam.

Zirkus ohne Tiere, aber mit Ideen. Im September 2024 ist es 20 Jahre her, dass das Theater im ersten Hof der Hackeschen Höfe als Spielstätte für zeitgenössischen Zirkus neu startete. Hier kommen innovative Produktionen zur Aufführung, die die Grenzen zwischen Zirkus, Theater, Tanz und Musik überwinden.

Das Chamäleon hat kein festes Ensemble. Es entwickelt und koproduziert neue Produktionen, zeigt Gastspiele und bietet der Berliner freien Szene eine Bühne. Das Chamäleon ist ein privates Theater und gemeinnützig.

Im Jahr 2023 wurde es mit dem Theaterpreis des Bundes in der Kategorie „Privattheater und Gastspielhäuser“ ausgezeichnet.

Wir sprachen mit Anke Politz, der Intendantin, und Geschäftsführer Hendrik Frobel.

Hendrik Frobel (links) und Anke Politz (rechts) mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Preisverleihung
Hendrik Frobel (links) und Anke Politz (rechts) mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Preisverleihung

Anke Politz

Aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, kam Anke Politz zum Studieren nach Berlin. Ihre Karriere begann sie in einer PR-Agentur mit Auftraggebern aus der Berliner Kulturszene. Im Jahr 2004 stellt sich das Chamäleon-Theater nach einer Insolvenz neu auf und holt Politz als Leiterin der PR-Abteilung ins Team. Im Jahr 2007 übernimmt sie die Direktion und 2011 die künstlerische Leitung.


Was macht eine Intendantin in einem Haus ohne eigenes Ensemble?

AP: Ich verstehe mich als Kuratorin und Produzentin. Ich bin ständig auf der Suche nach künstlerischen Arbeiten, Kreativen oder Impulsen, die ich zu uns einladen oder für uns produzieren möchte.
Mit Hendrik zusammen entwickle ich unsere langfristigen inhaltlichen Strategien. Wir denken künstlerisch und arbeiten ganzheitlich. Gastkompanien sehen uns und das Haus noch über Jahre als ihre Zirkusfamilie an. Auch mit den kleinen Eigenproduktionen haben wir uns quasi feste eigene Ensembles geschaffen. Die sind zwar strukturell unabhängig, aber arbeiten mit uns im Team zusammen.


Müsst ihr als privates Theater auch mal was bringen, was ihr nicht ganz so toll findet, was sich aber gut verkauft?

Wir schlagen eine Brücke zwischen künstlerischem Anspruch und Kommerzialität. Das ist für uns kein fader Kompromiss, sondern Ziel unserer Arbeit. Es gibt wohl keine Künstler*in, die sich nicht über Zuspruch und ein volles Haus freut. Und unsere Erfahrung zeigt, dass der Wunsch, ein Publikum zu erreichen, nicht im Widerspruch zu künstlerischem Ehrgeiz steht. Unser Publikum möchte hohe Qualität sehen und sich ernst genommen fühlen.

Anke Politz, Foto: Gianluca-Quaranta
Anke Politz, Foto: Gianluca-Quaranta

Welche Voraussetzungen muss ein Stück erfüllen, das ihr ans Haus holt?

Es muss uns begeistern und das Potenzial haben, dass wir uns zutrauen, es für viele Monate aufzuführen. Damit gehen wir ja immer auch ein Risiko ein.


Habt ihr Kontakt zu traditionellen Zirkussen, die mit dem Zelt von Stadt zu Stadt reisen?

Nicht wirklich.


Auf was, was du im Chamäleon bewirkt hast, bist du besonders stolz?

Ich bin sehr glücklich und stolz über das bisher Erreichte. Und darauf, dass wir immer bereit sind, Dinge infrage zu stellen und neu anzugehen.


Was war das Schlimmste, was dir als Intendantin des Chamäleons passiert ist?

Die Ohnmacht bzw. Handlungsunfähigkeit am Beginn der Pandemie.   


Welche Ziele hast du für das Chamäleon?  

Ich wünsche mir sehr, dass unsere ganzheitliche Arbeitsweise weiter wächst und gedeiht. Wir möchten auch in Zukunft ein Ort der vielen für viele sein – zugänglich, herzlich, offen, neugierig und aufrecht.

Hendrik Frobel

Seine Liebe zum Zirkus entdeckte Frobel als Mitglied eines Kinder- und Jugendzirkus in Niedersachsen. Nach einer Ausbildung zum Hotelfachmann arbeitete er in der Gastronomie sowie im Hotel-Management, studierte berufsbegleitend Betriebswirtschaft. Er leitete Freizeiteinrichtungen wie beispielsweise ein Legoland Discovery Center. Seit dem Jahr 2011 ist Frobel Geschäftsführer der Chamäleon gGmbH.


Hast du mal von einer künstlerischen Karriere geträumt und wenn ja, von welcher?

HF: Ja, habe ich – und es blieb nicht beim Träumen. Als Mitglied im Kinder- und Jugendzirkus Bumm Balloni durfte ich viele Auftritte miterleben, darunter Highlights wie die Eröffnung der Expo in Sevilla, die Eröffnung der Expo in Hannover und ein mehrwöchiges Gastspiel in Weiß-Russland. Eine tolle Zeit.

In diesen Jahren habe ich die Leidenschaft für die Magie entdeckt und bin danach mehrere Jahre als Zauberer aufgetreten. Dazu gehörte auch ein lang gehegter Wunsch: einmal im Leben Siegfried & Roy in Las Vegas sehen. Ein Traum wurde wahr - es gab sogar einige persönliche Treffen mit den Weltklasse-Magiern. Aber das ist eine lange Geschichte, die würde den Rahmen dieses Interview sprengen. Wir können uns ja noch mal für Teil 2 treffen (Frobel lacht).


Wie ist das Chamäleon in seiner heutigen Form entstanden?

Das in den den 1990er-Jahren gegründete Chamäleon geriet im Jahr 2004 in die Insolvenz und musste neu aufgestellt werden.

Kurze Zeit später zeigte die kanadische Kompanie Les 7 doigts / the 7 fingers ein Stück über ihr WG-Leben zeigte. Dass dies die neue Kunstform sein würde, die das künstlerische Profil des Hauses fortan ausmachen würde, ahnte zunächst noch niemand. Aber die Show war einfach großartig, revolutionär, hatte, was man heute „immersive Momente“ nennen würde und war immer ausverkauft. Und so war schnell klar: Genau das ist der neue Weg!

Man könnte also sagen: Nicht wir haben den zeitgenössischen Zirkus gefunden, sondern er hat uns gefunden.

Hendrik Frobel, Foto: Tomáš Třeštík
Hendrik Frobel, Foto: Tomáš Třeštík

Bist du auch selbst im Chamäleon aufgetreten und wenn ja, womit?

Als Künstler innerhalb eines unserer Stücke bin ich noch nicht aufgetreten. Aber ich begrüße regelmäßig auf der Bühne das Publikum. Wir sind ein kleines Theater. Ich genieße den Kontakt zu unseren Gästen sehr.

Abgesehen davon erinnere ich mich gerne an eine Off-Night zurück. Bei diesem Format laden wir Künstler*innen ein, neue Ideen, Show-Acts oder bestehendes Material zu zeigen. Für diese Abende verkaufen wir keine Tickets, sondern sprechen Menschen aus der Branche an. Ein geschützter Raum also. Vor einem solchen Abend lag mir das Chamäleon-Team monatelang in den Ohren: Alle wollten, dass ich noch mal auf der Bühne ein paar Zauberkunststücke zeige. Was soll ich sagen…ich habe mich verleiten lassen. Ein schöner Abend und endgültiger Abschluss meiner Magier-Karriere.


Wie finanziert sich das Chamäleon? Bekommt ihr Subventionen?

Das Chamäleon ist seit der Wiedereröffnung im Jahr 2004 privat strukturiert und lebt hauptsächlich von den Ticket- und Gastronomie-Erlösen. Aktuell erhalten wir eine Förderung von ca. drei Prozent des Gesamthaushaltes von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die verbleibenden 97 Prozent unseres Etats müssen wir selbst erwirtschaften. Das ist eine große Herausforderung. Und die Lage spitzt sich angesichts steigender Kosten zu. Doch wir wollen unsere Preise nicht so weit anheben, dass wir Gäste verlieren und Publikumsgruppen ausschließen.

Durch den Gemeinnützigkeitsstatus machen wir deutlich, dass wir die finanziellen Mittel ausschließlich zur Erreichung unserer Ziele einsetzen: zeitgenössischen Zirkus einem möglichst breiten Publikum zu präsentieren.


Auf was, was du im Chamäleon bewirkt hast, bist du besonders stolz?

Mich freut besonders, dass wir ein leidenschaftliches und loyales Team haben. Nach einer 18-monatigen Unterbrechung während der Pandemie haben sich fast alle Kolleg*innen wieder im Chamäleon eingefunden. Darunter auch solche, die besser bezahlte Jobs gekündigt haben, um unser Team erneut zu verstärken. Das waren ergreifende Momente für mich – wenn ich das erzähle, bekomme ich immer noch Gänsehaut.

„In between” von Circo-Aereo 2023, Foto: Andy Phillipson
„In between” von Circo-Aereo 2023, Foto: Andy Phillipson

Was im Chamäleon war dein größter Flop?

Wir pflegen eine gesunde Fehlerkultur: Ausprobieren, aber auch Scheitern ist erlaubt. Nur dadurch können wir wachsen und lernen. Ich will im Nachhinein immer verstehen, warum etwas nicht funktioniert hat oder das Ergebnis ein anderes war als erwartet. Somit ist auch ein „Flop“ ein Gewinn!


Welche Ziele hast du für das Chamäleon?

Ich möchte das Chamäleon finanziell in eine noch stabilere Lage versetzen. Ich brenne dafür, den zeitgenössischen Zirkus weiter in die Welt zu tragen. Wenn ich träume, sehe ich weltweit mehr Bühnen wie das Chamäleon.


Was gefällt dir an eurem Standort in den Hackeschen Höfen?

Die Hackeschen Höfe ermöglichen uns eine einzigartige Arbeitsweise und einen besonderen Publikumsmix: 40 Prozent aus Berlin, 15 Prozent aus Brandenburg, 35 Prozent aus Deutschland und 10 Prozent aus dem Ausland. Ich könnte mir keinen besseren Ort für das Chamäleon vorstellen. Wir werden in jedem Fall bleiben.

Ich persönlich genieße es immer ganz besonders, wenn nach einem langen und grauen Berliner Winter wieder die ersten Gäste im Hof ihren Espresso genießen. Oft ist es dann noch kalt, die Menschen brauchen weiterhin ihre Jacken, genießen aber bereits einen Kaffee in den Höfen. Dann spüre ich, wie die Stadt wieder zum Leben erwacht und diese Oase in Berlin-Mitte zu strahlen beginnt. Einfach toll!  


Geburtstagssause mit Wolf

Zur Geburtstagsfeier am 05. September 2024 packt die australische Kompanie Circa ein spektakuläres Geschenk aus: die Uraufführung von Wolf, eine Koproduktion mit dem Chamäleon. Circa ist dem Haus seit langem verbunden, elf Jahre zuvor stellte die Kompanie hier ihr Debüt vor. Direktor Yaron Lifschitz verspricht die „komplexeste Produktion unserer langen gemeinsamen Geschichte”: Zehn Akrobat:innen, „mehr Kraft, mehr Energie und keine Kompromisse”.

Die Previews fangen in der zweiten August-Hälfte an. Tickets gibt es hier.

„Wolf” von der Kompanie Circa, Foto: Robert Torres
„Wolf” von der Kompanie Circa, Foto: Robert Torres